FuturICT: Simulator stellt Weltbild auf den Kopf
Lösung globaler Probleme braucht Verstehen unsichtbarer Interaktionen
Welt: Zu komplex, um mit heutigen Mitteln zu begreifen (Foto: pixelio/Altmann) |
Zürich (pte001/22.10.2011/06:00) "Wir verstehen das Universum besser als unsere globalisierte Welt. Um deren Dynamik zu begreifen und nachhaltig zu gestalten, müssen wir Daten und Modelle intelligenter als bisher verknüpfen." Das erklärt Dirk Helbing, Komplexizitätsforscher an der ETH Zürich und Leiter von FuturICT http://www.futurict.eu im pressetext-Interview. Das interdisziplinäre Projekt, das mit der "Living Earth Platform" den ersten Gesellschaftssimulator erschaffen will, gilt als Favorit für die eine Mrd. Euro, welche die EU demnächst einer Flaggschiff-Forschungsinitiative zuspricht.
Gesellschaft unter Naturschutz stellen
Die Welt hat einen Grad an Komplexität erreicht, den der Mensch nicht mehr durchschaut. "Vieles können wir kaum noch nachvollziehen: Beispielsweise die Geschehnisse an den Finanzmärkten oder soziale Unruhen wie jene in London, in die sich sogar Lehrer und Millionärstöchter mischten", so Helbing. Selbstorganisation kann zu Koordination, Effizienz und Stabilität im System führen - genauso aber zum Zusammenbruch führen. Was letztlich passiert, hängt davon ab, wie die Teile des Systems interagieren.
Aber genau über diese Interaktion weiß man nur wenig. Kein Wunder, so Helbing, dass man nicht versteht, wie die Gesellschaft funktioniert und was sie zusammenhält. Deshalb kann es leicht geschehen, dass ihre Fundamente beschädigt oder ausgebeutet werden. Der ETH-Forscher zieht Vergleiche mit dem früheren Umgang mit der Umwelt. "Auf öffentliche Güter wie Wald und Flüsse wurde so lange kaum Rücksicht genommen, bis man den Schaden messen konnte. Genauso müssen wir lernen, die Folgen unseres Handelns auf die Gesellschaft messbar und verständlich zu machen. Viele Probleme gehen darauf zurück, dass wir die Gesellschaft aus der falschen Perspektive sehen."
Unsichtbare Welt deuten lernen
Gemeinwohl und Wirtschaftswachstum hängen nicht nur von den einzelnen Teilen des Systems wie Individuen, Firmen, Institutionen und Infrastruktur ab. "Gesundheit, Kooperationsbereitschaft, Regelbefolgung, soziale Vernetzung, Vertrauen und Zufriedenheit entscheiden alle mit, ob etwa eine neu errichtete Firma an einem Ort floriert oder zugrunde geht. Diese Faktoren werden jedoch vernachlässigt, da sie bisher kaum messbar sind. Was wir heute brauchen, ist besseren Kompass für Politik und Wirtschaft als das Bruttosozialprodukt", so der Forscher.
Immerhin gibt es mittlerweile eine gute Datengrundlage, denn längst schon messen Google Trends oder Twitter die Befindlichkeit der Welt. Offen ist aber die Frage, worauf man schauen muss. "Messungen ohne theoretischem Hintergrund führen nicht weit. Nötig sind Instrumente, die in den Daten Bedeutungsvolles entdecken, das Gefundene interpretierbar machen und Implikationen für die Politik aufzeigen können", erklärt Helbing. FuturICT soll deshalb Datensätze und Theorien kombinieren und durch ein "planetares Nervensystem" verständlich machen.
Galileo 2.0
Um komplexe Syteme zu verstehen, ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. "Wir brauchen ein Umdenken weg von der sichtbaren Welt der Komponenten, hin zur unsichtbaren, nur indirekt erschließbaren Welt der Interaktionen. Dieses Umdenken wird vielleicht so radikal sein wie der Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild", betont der ETH-Forscher.
Während ohne Letzterem die moderne Physik oder Satelliten im All kaum vorstellbar gewesen wäre, sei das neue Umdenken für die Lösung globaler Herausforderungen wie etwa die Finanzkrise nötig. "Wenn wir die Interaktionen richtig wählen, können wir die Tendenz zur Selbstorganisation nutzen. Das läuft auf mehr Bottom-Up-Ansätze heraus, für die es aber die richtigen Spielregeln braucht. Diese gilt es in Simulationen zu erforschen."
Ampeln steuern sich selbst
Dass neue Durchbrüche möglich sind, zeigen Fortschritte aus der Verkehrsteuerung. Moderne Fahrerassistenzsystemen ändern die Interaktionen zwischen den Fahrzeugen und verringern so die Staugefahr. Auch gibt es bereits Ampeln, die durch die Kommunikation mit den Nachbarampeln die Fahrzeit auf ein Minimum verkürzen. Statt von einem Rechenzentrum werden sie durch den lokalen Verkehrsfluss gesteuert (pressetext berichtete: http://pressetext.com/news/20100917017). Davon profitieren nicht nur die Verkehrsteilnehmer, sondern auch die Umwelt.
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