Klüger, tiefer, weiter: Nachruf auf Arnulf Baring
Intellektueller Querdenker und Zeithistoriker starb am 2. März in Berlin mit 86 Jahren
Arnulf Martin Baring (8. Mai 1932 bis 2. März 2019) (Foto: facebook.com) |
Berlin (pte001/08.03.2019/06:00) Am 2. März 2019 starb Arnulf Martin Baring im Alter von 86 Jahren in Berlin. Der gebürtige Dresdner zählte zu den bekanntesten deutschen Juristen, Publizisten, Politikwissenschaftlern, Zeithistorikern und Autoren. Er benötigte kein Regierungsamt und keine Spitzenposition in einem Wirtschaftsverband, um Aufmerksamkeit zu finden. Seine Persönlichkeit, seine Eloquenz, die Authentizität seines Denkens, die Eindringlichkeit seiner Argumente und nicht zuletzt sein Charme garantierten ihm, dass er Gehör und offene Türen vorfand, wo immer sein Rat und Verstand jenseits ideologischer Vorurteile gefragt waren.
Auf Augenhöhe mit der Politik
Sein Tod bedeutet nicht weniger als eine Zäsur für das demokratische Deutschland, das einen zuverlässigen und unbestechlichen Freund verloren hat, vielleicht seinen besten. Baring begegnete ich als Student am Friedrich-Meinecke-Institut Anfang der 1980er-Jahre. Als ich ihn zum ersten Mal abseits der Freien Universität in seinem Haus in Schlachtensee besuchte, waren wir kaum ins Gespräch gekommen, als Kurt-Georg Kiesinger ihn anrief. Kiesinger war damals seit fast anderthalb Jahrzehnten Bundeskanzler außer Dienst. Offenbar handelte es sich um einen willkommenen Rückruf, der für diesen oder den nächsten Tag erwartet wurde. Baring sprach mit dem Staatsmann völlig direkt und unbefangen.
Mit einer selbstverständlichen Vertrautheit mahnte er den Altkanzler, munterte ihn auf, erkundigte sich nach Kiesingers Wohlergehen, nach Wichtigem wie scheinbar Unwichtigem. Es klang wie ein Gespräch unter Weggefährten. Obwohl ich nur vernahm, was in Berlin in die Leitung Eingang fand, war die Offenherzigkeit Kiesingers auch für mich gut herauszuhören. Sie machte es dem Zeithistoriker wahrscheinlich nicht schwer, Beweg- und Hintergründe zu erfahren, um Geschehnisse, an denen Kiesinger mitgewirkt hatte, richtig einzuordnen.
Baring, das war offensichtlich, war selber aufrichtig, und deshalb genoss er Vertrauen. Den Extrakt der wissenschaftlichen Erkenntnis in lesbare Form zu bringen, die Wirkung von Historie in der Gegenwart lebendig zu machen, komplexe Fragen elegant und leichtfüßig zu erörtern, so dass am Ende Geschichte als spannendes, hochaktuelles Fach begriffen wurde - kaum einer seiner Kollegen beherrschte das so wie er. Ein sicherer, aber kein bequemer Freund.
Staatspolitik vor Parteipolitik
Der Querdenker war dies auch die Zeit kurz nach dem Bruch zwischen ihm und der SPD. Aus übergeordneten, staatspolitischen Erwägungen hatte Baring trotz SPD-Parteibuchs 1983 zur Wahl der FDP aufgerufen. In der bemerkenswerten Bundestagswahl am 6. März stellte sich Helmut Kohl, der erste CDU-Kanzler nach Kiesinger, nach dem geglückten Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt erfolgreich dem Souverän. Genschers FDP, die mit dem "Lambsdorff-Papier" eine Art Straffung des Sozialstaats forderte, welche Gerhard Schröder später nur müde belächelt hätte, hatte die sozialliberale Koalition in Bonn verlassen müssen und daraufhin mehrere Landtagswahlen krachend verloren. Sie lief Gefahr, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Diese hatte aus dem bunten Bundestag der 1950er-Jahre ab 1961 ein Drei-Fraktionen-Parlament gemacht. Nun also drohte ein Zwei-Parteien-System, nach dem wenig einladenden Vorbild der Angelsachsen.
Staatspolitik ging für Baring vor Parteipolitik. Der SPD-Freund war in noch stärkerem Maße eben ein Freund des fragilen Staatswesens Bundesrepublik Deutschland. Ohne das liberale Korrektiv sah er es gefährdet. Liebte er diesen Staat? Gustav Heinemann war diese Frage einmal gestellt worden. Ein energisches "Unsinn, ich liebe meine Frau" ist als Antwort überliefert. Aber Heinemann wie Baring haben die Gründung und Entwicklung der zweiten deutschen Republik als eine Chance für das deutsche Volk empfunden. Als Glück, als ein Geschenk, das geachtet und gepflegt werden sollte - und nicht etwa als eine Selbstverständlichkeit, auf die wir Anspruch hätten oder die gar beliebig strapazierbar sei. Freiheitsrechte sind keine Pensionsrechte, sondern müssen laufend verteidigt werden - diesen Gedanken Thomas Dehlers teilte auch Baring.
Fraktion für deutliche Aussprache
Baring konnte sich in andere Menschen hineindenken. So vermochte er Empathie oder zumindest Verständnis für andere Positionen zu entwickeln. Es fiel ihm erstaunlich leicht, Dinge oder Ereignisse nacheinander aus ganz verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu beleuchten. Zu dieser schwierigen Übung ermunterte er auch seine Studenten, wie er sie überhaupt zum Denken und zum Diskurs nötigte, beides seine Paradedisziplinen. Baring war gedanklich meist einen Schritt voraus, war klüger, schürfte tiefer, dachte weiter.
Entsprechend leicht und souverän beherrschte er später auch manche Talkshow. Zuweilen war den angespannten Gesichtern des Moderators oder anderer Diskutanten abzulesen, wie sehr sie darauf brannten, ihn durch eine These oder Frage in Verlegenheit zu bringen. Es gelang nie - der brillante Psychologe wusste wahrscheinlich längst drei verschiedene Antworten, ehe eine einzige Frage ausgesprochen war. Und warum? Weil er das Problem zuvor auch aus den Blickwinkeln seiner Diskussionspartner beäugt hatte. Dabei ließ es der im Grunde höchst konziliante Mann nicht an Prägnanz fehlen, wenn er problematische Entwicklungen erkannte. Frühzeitig wies der Berliner auf die Bedrohung des demokratischen Rechtsstaats durch entstehende Parallelgesellschaften hin und bescheinigte der heute noch immer amtierenden Bundeskanzlerin "charakterlose Beliebigkeit".
2002 - der Bundeskanzler hieß Gerhard Schröder - hatte der Patriot die fortschreitende Erosion beobachtet: "Es festigt sich im Lande die Überzeugung, dass unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet." Die emotionale Bindung der Deutschen zu ihrem eigenen Land sei leider unterentwickelt und hilflose Politiker ließen den Staat verrotten. Mit derlei klaren Worten hat sich der Seismograf für den Zustand der deutschen Demokratie nicht nur Freunde gemacht, gleichwohl sind diese Feststellungen heute gültiger denn je.
Der lohnende Blick in den Osten
Ideologien, Vorurteile, gar Dämonisierungen, wie sie 74 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches vielerorts wieder an der Tagesordnung sind, waren ihm fremd. Er empfand sie als Denkhindernisse. Empirisch begründete Anschauungen ließ er hingegen gelten und sich erläutern. Denn er lernte gern, blieb immer zugewandt und neugierig. Neugierig auch auf den anderen Teil Deutschlands und den anderen Teil Europas. Er begrüßte die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel, unternahm im Lutherjahr 1983 eine Exkursion in die DDR und musste dabei erleben, dass von den individuell angereisten Studenten einige in Wittenberge an der Elbe landeten - statt in Wittenberg. Aus der Geschichtslektion ergab sich en passant auch eine in Geografie.
Die Botschaft war klar: Deutschland ist größer als die BRD, Europa viel größer als die Europäische Gemeinschaft. Auch als Professor Emeritus lenkte er Blicke und Schritte seiner Schüler gern gen Osten. So eindeutig, wie er zur Westbindung stand, so sicher war er sich, dass einem wieder vereinigten Deutschland gewaltige Verantwortung für ein gutes Verhältnis der EU zu ganz Osteuropa zukam. Das Verstecken im Windschatten der USA verstand er als Duckmäuserei. Deshalb war die Westbindung kein Automatismus, sondern sie war an Werte geknüpft.
Die Familie und die "FUmilie"
Barings Familie stammte aus Hannover. Vorfahren sind unter den Ministerialen des 1866 von Preußen zerstörten Königreichs zu finden, das von 1714 bis 1837 in Personalunion mit Großbritannien regiert wurde. Mitten im Zentrum der Stadt Hannover findet sich noch heute die Baringstraße. Auch renommierte Theologen, die im Gebiet des heutigen Niedersachsens gewirkt haben, und berühmte Londoner Bankiers sind aus dieser Familie hervorgegangen. 1866 flohen die Barings vor den Preußen nach Dresden. Das sächsische Königreich war, wie die anderen deutschen Mittelmächte, im Bruderkrieg zwischen Österreich und Preußen der angegriffenen Habsburger Monarchie zur Seite getreten. Der Krieg beendete den Dualismus, der seit dem Wiener Kongress Mitteleuropa ein halbes Jahrhundert Frieden beschert hatte.
Kein Wunder, dass Arnulf Baring auch an diesem Mikrokosmos europäischer Geschichte interessiert war und die Arbeit über einen niedersächsischen Ministerpräsidenten, der aus der Deutsch-hannoverschen Partei (DhP) hervorgegangen war, gern mit einem Vorwort ausstattete. Der deutsche Föderalismus, der die Zentralmacht in Berlin vor Übermut schützte, besaß seine Sympathie. 1945 jedoch, nach den verheerenden Bombenangriffen auf Dresden im Februar, flüchtete die Familie nach Berlin. Preußen war Geschichte. Der Vater, Martin Baring, hatte nicht von ungefähr in Sachsen und Niedersachsen Jura studiert. Später wurde er Präsident des Kammergerichts und Senatspräsident am Bundesverwaltungsgericht.
Neugier statt "political correctness"
Neben der Familie durfte Baring sich auch in der FUmilie heimisch fühlen, einer losen Verbindung von etwa 30 früheren Studenten und Doktoranden, die ihm herzlich zugetan waren. Dieser Kreis setzte weit über Barings Ausscheiden aus dem formalen Universitätsdienst die Tradition der Exkursionen fort, mit Baring und seiner ungemein klugen zweiten Frau Gabriele als Zentralgestirnen. Die politische Debatte empfand Baring in den vergangenen Jahren als verödet. Zu Recht, da political correctness (häufig geradezu ein Synonym für sachliche Lücken oder Unkorrektheit) Journalisten und Historikern zunehmend ihre berufliche Neugier verleidet.
Die stromlinienförmige Ware Nachricht, die sich gut verkaufen soll, ersetzt in Deutschland heute nicht selten die wahre Nachricht. Dabei sah Baring die Rückkehr der Ideologen und damit der Denkverbote ungefähr als das Letzte an, was unserer Demokratie wieder auf die Beine helfen könnte. Arnulf Baring starb am 2. März im Kreise seiner Familie in Berlin. Der 8. Mai, sein Geburtstag, war ein Feiertag der Geschichte, weil die Nazibarbarei am Ende war. Seit Baring darf auch die Geschichtswissenschaft diesen 8. Mai für sich als Feiertag reklamieren.
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