pte20230515010 Politik/Recht, Forschung/Entwicklung

Psychoanalyse: Faschismus Teil jeder Demokratie

Era Loewenstein: Es beginnt mit der Auslöschung von Erinnerung, Wahrheit und Geschichte


Wien (pte010/15.05.2023/10:35)

Die israelisch-amerikanische Psychoanalytikerin Era Loewenstein hat bei einem Vortrag in Wien vor dem aufkeimenden Rechtsextremismus in Europa und den USA gewarnt, aber zugleich hinzugefügt, dass man diesen Tendenzen nicht entkommen kann. Die hässliche Fratze des Faschismus sei ein ständiges Nebenprodukt moderner Demokratien, das einzig probate Mittel dagegen sei ständige Erinnerungsarbeit und aktives Engagement gegen jegliche Einschränkung demokratischer Errungenschaften.

Faschistische Bewegungen mobilisieren die Massen unter dem Bann eines charismatischen Führers für eine bessere Welt, doch das Ziel sei nicht die Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern uneingeschränkte Macht über dieselben Menschen, sagte Loewenstein am vergangenen Freitag im vollbesetzten Saal der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. "Wenn die wahnhafte Blase an die Grenzen der Realität stößt, werden die Anhänger oft selbst zu Opfern des Regimes und ihres Führers."

Viele Historiker hätten auf die Faszination des Todes und die grenzenlose Zerstörungswut faschistischer Regime hingewiesen. Es beginnt mit der Erfindung eines Feindbildes, das durch bedeutungslose Merkmale definiert wird, etwa körperliche oder geistige Gesundheit, Rasse, Hautfarbe, Glaube, ethnische Zugehörigkeit, politische Einstellung oder sexuelle Orientierung. Diese Zielgruppen werden zunächst böswillig diffamiert und dann schrittweise ihrer Rechte beraubt. Ist der erfundene Feind ausgelöscht, muss ein neuer gefunden werden, um die Zerstörungsmaschinerie am Laufen zu halten.

Tumps "TRUTH social"

Seit dem Sturm von fanatisierten Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 sei ihr, Loewenstein, klar, dass der Schritt von der Demokratie zur Tyrannei sehr rasch erfolgen und überall stattfinden kann. Das beginnt nicht nur mit der Erfindung künstlicher Feindbilder und der Fabrikation alternativer Fakten (etwa: Trumps "TRUTH social"), sondern geht Hand in Hand mit dem Versuch, Erinnerung, Geschichte und historische Wahrheiten auszulöschen, wie das auch in ihrer eigenen Heimat, Israel, nach der Staatsgründung passiert sei.

"Wir wussten nichts von der Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948. Erst in meinen späten Fünfzigern erfuhr ich, dass mehr als 750.000 Palästinenser, Männer, Frauen, Alte und Kinder - vertrieben und gezwungen worden waren, Palästina zu Fuß oder in Booten zu verlassen. Viele Palästinenser wurden während der Nakba ermordet oder gefoltert, Frauen vergewaltigt, Häuser, Banken, Schulen und Farmen geplündert." Bis heute habe der Staat Israel diese Realität nicht akzeptiert und keine Verantwortung übernommen", so Loewenstein.

Die Nakba sei jedoch kein Ereignis der Vergangenheit, sondern ein andauernder Prozess. Der Staat Israel raubt weiterhin das Land der Palästinenser, zerstört ihre Häuser, tötet und inhaftiert sie. Leider ist die ethnische Säuberung der Palästinenser kein Einzelfall. Es sei eine tragische Tatsache, dass im Laufe der Geschichte und überall auf der Welt immer wieder ethnische Gruppen vertrieben und ermordet werden. Die Gewalt eignet sich das Land an, feiert ihre Siege und erfreut sich an den beschlagnahmten und geplünderten Häusern und Geschäften.

Faschismus steckt in uns allen

Loewenstein sagte, sie habe schon als Teenager nach dem Sechstagekrieg von 1967 mit eigenen Augen gesehen, wie rechtsextreme Bewegungen entstehen, wie der Aufstieg eines fanatischen, religiösen und messianischen Nationalismus vor sich geht - ein gewalttätiger Nationalismus, der behauptete, das palästinensische Westjordanland und Transjordanien gehörten historisch zu Israel und müssten besiedelt und annektiert werden - zu einem Groß-Israel vereinigt.

Sie habe ihre Heimat im Alter von 26 Jahren verlassen, um dem Gift faschistischer Geisteshaltungen zu entrinnen, Geisteshaltungen, die, wie der Psychoanalytiker Christopher Bollas 1992 festgestellt habe, Menschen die Lizenz zum Völkermord geben. Doch auch die USA seien nicht gefeit vor solchen Vorstellungen. Nach dem Kapitol-Sturm sei sie zu der erschreckenden und ernüchternden Erkenntnis gelangt, dass faschistische Einstellungen in uns allen stecken. "Der Faschismus scheint ein unvermeidlicher Teil der menschlichen Existenz zu sein."

Das Muster sei immer dasselbe, erklärte Loewenstein: "So zerstören moderne Faschisten wie Victor Orban und Wladimir Putin Demokratien: Zuerst schwächen sie die Justiz, dann ändern sie die Verfassung. Gleichzeitig übernehmen sie die Kontrolle über die freie Presse und grenzen investigative Journalisten aus. Wenig später werden Oppositionelle als Verräter gebrandmarkt. Das kann überall passieren." Daher müsse die Zivilgesellschaft auf die ersten Anzeichen von Tyrannei und Faschismus reagieren, bevor es zu spät ist.

Weblink zum Vortrag: https://wpv.at/nachrichten/artikel/2023/02/era-loewenstein-die-verlockung-des-faschismus-und-die-verabredung-in-samarra

Die deutsche Übersetzung des Vortrags "Die Verlockung des Faschismus und die Verabredung in Samarra" kann bei der Autorin angefordert werden. Era A. Loewenstein ist Psychoanalytikerin, Ausbildungs- und Supervisionsanalytikerin am San Francisco Center for Psychoanalysis (SFCP), ehemalige Präsidentin der Nordkalifornischen Gesellschaft für Psychoanalytische Psychologie und war assoziiertes Vorstandsmitglied des International Journal of Psychoanalysis. Seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im Jahr 2016 schreibt und spricht sie über Faschismus. Ihr in Wien geborener Vater flüchtete 1938 vor den Nazis nach Israel.

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