ptp20131015022 Politik/Recht, Medien/Kommunikation

Die Primaries der europäischen Grünen

Wahlkampf für die Europawahlen


Berlin (ptp022/15.10.2013/19:50) Das gewagte basisdemokratische Experiment, mit dem die europäischen Grünen ihre Spitzenkandidaten zur Europawahl aufstellen, nennt sich Primaries. Was ist das? Und wer hat Chancen aufs europäische Grünen-Spitzenduo?

Ewald König (EurActiv) informiert:

Kommenden Sonntag wird Rebecca Harms erfahren, ob sie genügend Unterstützer gefunden hat, um bei den Primaries überhaupt mitmachen zu dürfen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament darf sich zwar gute Chancen ausrechnen, aber das Nominierungsverfahren läuft noch bis Samstag; es ist etwas kompliziert. Und dann geht es erst los mit der europaweiten Online-Abstimmung, die volle drei Monate dauern soll.

Warum sich die europäischen Grünen (European Green Party, EGP) das antun? Weil sie durch ihr schlechtes Abschneiden bei der Bundestagswahl alarmiert sind. "Wir brauchen als Grüne in Europa unbedingt einen Aufwind", meint Harms auf die Frage von EurActiv.de am Montagnachmittag in Berlin. "Die Deutschen haben die europäischen Grünen ja nicht gerade beflügelt!"

Dazu komme, dass die deutschen Grünen derzeit mit sich selbst beschäftigt seien. "Bis sie die Konsequenzen für die Europawahlen gezogen haben, sind die auch schon vorbei."

Zuvor hatte Reinhard Bütikofer, der zusammen mit der Italienerin Monica Frassoni den Vorsitz der EGP im EU-Parlament innehat, das Projekt erklärt. Er sieht in der Aktion ein Zeichen für mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung und ist sicher, dass diesem Instrument die Zukunft der politischen Personalauswahl gehöre - auch in anderen Parteien.

So läuft das Verfahren

Wie läuft das Verfahren, das an Basisdemokratie, aber auch an manchen Fallen kaum zu überbieten sein dürfte?

Jeder Kandidat braucht nicht nur eine Nominierung seiner Heimatpartei, sondern auch die Unterstützung von insgesamt vier Mitgliedsparteien der europäischen Grünen. Deren gibt es insgesamt 33 aus allen 28 EU-Mitgliedsländern.

Bis Samstag (19. Oktober) können die Parteien ihre Kandidaten nominieren. Am Ende bleiben vier bis acht Kandidaten übrig, die sich dann der nächsten Stufe der Primaries stellen dürfen. Der Kandidatur kann sich jeder stellen, man muss nicht einmal Mitglied einer der Grünen-Parteien sein.

Jeder darf mitstimmen

Die nächste Stufe funktioniert folgendermaßen: Zwischen 10. November und 28. Januar, also knapp drei Monate lang, ist die Stimmabgabe im Internet gefragt.

An der Online-Stimmabgabe darf sich jeder beteiligen, der
* mindestens sechzehn Jahre alt ist
* in der Europäischen Union wohnt
* und per Klick erklärt, dass er den Grünen nahesteht.
* Nationale Bindung besteht nicht, somit kann man aus dem einen EU-Land auch für Kandidaten eines anderen EU-Lands votieren.

Mögliche Schwachpunkte und Manipulationsgefahren

Mit anderen Worten:
* Das Alter der Abstimmenden ist relativ schwer zu kontrollieren.
* In der EU zu wohnen, bedeutet nicht, EU-Bürger sein zu müssen.
* Den Grünen nahezustehen, bedeutet: Man muss nicht Parteimitglied sein.
* Wie weit man den Grünen nahesteht, ist demnach Glaubenssache.
* Online-Abstimmung bedeutet: Die Abstimmenden müssen Internet haben, was prinzipiell problematisch sein kann
* und sie müssen eine feste Telefonnummer haben, unter der sie zwecks Verifizierung und Vermeidung von Mehrfachabstimmungen erreichbar sind. Auch das kann eine prinzipiell problematische Einschränkung sein.
* Mehrfachabstimmungen sind dennoch nicht auszuschließen, die Initiatoren rechnen aber ohnehin nicht damit.
* Es sind keine Mindestanforderungen bei den Stimmzahlen vorgesehen.
* Um der Mitmachzahl dennoch Relevanz zu verleihen, bedarf es aufwändiger Mobilisierung.
* Auch eine Abstimmungsfrist von drei Monaten scheint prinzipiell problematisch, da sich politische Grundlagen für die Entscheidungen in dieser Zeit durchaus verändern und daher Verzerrungen eintreten können.

Debattentermine in der realen Welt

Um die Online-Abstimmung zu erleichtern, wird es auch in der Offline-Welt Debatten geben. Fixiert sind vorerst Termine in Düsseldorf (am 1. Dezember) und in Berlin (am 10. Januar). Auch in Athen, Brüssel und London wird es Auftritte der Kandidaten geben.

Die meisten Stimmen sind noch keine Garantie

Der 28. Januar ist der letzte Tag, an dem sein Votum abgeben kann. Das Spitzenduo wird aber nicht automatisch aus den Kandidaten geformt, die EU-weit die meisten Stimmen haben.

Es gibt folgende Einschränkungen:
* Eine der beiden Personen im Spitzenduo muss auf jeden Fall eine Frau sein, wie es der Tradition der Grünen entspricht. Das bedeutet: Selbst wenn die Kandidatin nicht die meisten oder zweitmeisten Stimmen auf sich vereinigen kann, wird sie gemäß der Frauenquotierung an die Spitze gestellt. Es kann also nicht zwei Männer an der Spitze geben. Umgkehrt ist es anders, da es die Mindestquotierung nur für Frauen, nicht aber für Männer gbt. Theoretisch könnten demnach zwei Frauen an der Spitze stehen.
* Weitere Einschränkung: Die beiden Spitzenleute dürfen nicht aus demselben Land kommen. Sie dürfen also nicht von der gleichen nationalen oder gar regionalen Liste stammen. Selbst wenn zwei Deutsche die meisten Stimmen vor allen anderen Nationalitäten erhalten, kann nur einer zum Zug kommen.

Deutsch-französische Doppelspitze?

Wie sehen die Chancen der Kandidaten aus, am Wochenende genügend Unterstützer zu finden?

* Rebecca Harms (56) dürfte, wie man aus Grünen-Kreisen hört, keine Probleme haben.
* Ska Keller (32; Ska nennt sie sich statt Franziska) aus Deutschland hat ebenfalls Ambitionen.
* Ulrike Lunacek (56) aus Österreich kann sich Chancen ausrechnen
* José Bovè (60) aus Frankreich hat Chancen, gemeinsam mit einer Deutschen das europäische Spitzenduo zu stellen, auch wenn die Aufstellung der Listen in Frankreich noch strittig zu sein scheint.
* Weitere Namen gibt es, deren Chancen dürften eher gering sein.

Rebecca Harms findet, eine deutsch-französische Doppelspitze wäre denkbar. Vor allem wäre es in den ost- und südosteuropäischen EU-Ländern, in denen die Grünen eher schwach vertreten sind, gut, wenn es in der Krisenbewältigung eine andere deutsche Stimme gäbe als nur die Angela Merkels, meint Harms. Sie verweist auf die Größenordnungen in der Grünen-Fraktion im EP: Von insgesamt 57 Grünen-Abgeordneten seien 14 Deutsche und 16 Franzosen. "Wenn wir aus Deutschland oder Frankreich schwächeln, merkt das die ganze grüne Fraktion."

(Ende)
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