Schmerzspezialisten: "Den Joint auf Rezept brauchen wir nicht"
Pressegespräch zur Jahrestagung der Österreichischen Schmerzgesellschaft
Klagenfurt (pts018/20.05.2016/11:50) Die Nachricht hat für einige Emotionen gesorgt: In Deutschland sollen ab dem kommenden Jahr Schwerkranke, denen andere Therapien nicht helfen, getrocknete Cannabisblüten und -extrakt auf Rezept erhalten. So sieht es ein von der deutschen Bundesregierung bereits abgesegneter Gesetzesentwurf vor. Darin ist auch die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen vorgesehen. Die sollen allerdings nur erstattet werden, wenn die Therapie wissenschaftlich begleitet wird. Für den Import der Hanf-Pflanzen und -Extrakte soll eine noch zu gründende Cannabis-Agentur sorgen. In der Folge, so kündigte die Regierung an, soll es sogar einen eigenen, staatlich kontrollierten Anbau von Medizinal-Hanf geben.
Österreichische Experten skeptisch
Österreichische Experten halten diese Strategie nicht für nachahmenswert. "Wir brauchen keine Legalisierung von Haschisch oder Marihuana", sagte Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Generalsekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft und Leiter der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt, im Vorfeld der in Velden stattfindenden ÖSG-Jahrestagung. Der wichtigste österreichische Schmerzkongress beschäftigt sich in diesem Jahr unter anderem mit dem medizinischen Potenzial von Cannabis. "Uns stehen bereits jetzt wirksame und standardisierte Cannabinoid-Medikamente zur Verfügung, deren Wirksamkeit in einigen Indikationen gut belegt ist."
Cannabis aus dem Pharma-Labor
In Österreich stehen bereits einige Cannabinoid-Präparate zur therapeutischen Anwendung zur Verfügung: Dronabinol als magistrale Zubereitungen von pflanzlichem oder synthetisch hergestelltem delta-9-THC; das synthetische Cannabinoid Nabilone sowie Sativex, das standardisierte Extrakte der Cannabis-Pflanze mit definiertem Gehalt an THC und CBD enthält. Dazu kommen neue Cannabidiol-Zubereitungen.
"Das sind alles Produkte, die ihre Wirksamkeit und arzneimitteltechnische Sicherheit bereits bewiesen haben", erklärt Prof. Likar. Beim Konsum der Pflanze ließen sich dagegen Probleme wie mikrobielle und chemische Verunreinigungen nicht ausschließen. Zudem würde der "Joint auf Rezept" keine genaue Dosierung der medizinisch wirksamen Komponenten erlauben und sei mit den gesundheitlichen Gefahren des Tabakrauchens verbunden. "Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass die medizinische Wirkung von Cannabis oder Marihuana besser wäre als die bereits verfügbaren therapeutischen Cannabinoid-Reinsubstanzen", betont Prof. Likar.
Vielversprechende Studienlage
Auch wenn deutsche Schmerzexperten rund um die Zulassung von Hanfprodukten auch darauf hinwiesen, dass die Studienlage noch nicht ausreichend sei, gab es in den vergangenen Jahren durchaus vielversprechende Ergebnisse und Behandlungserfahrungen. So konnte in einer Reihe von Untersuchungen ein überraschend breites Wirkungsspektrum von Cannabinoiden nachgewiesen werden. "Gut belegt sind vor allem brechreizhemmende, appetitsteigernde und krampflösende Effekte", erklärt Schmerztherapeut Prof. Likar. "Zudem lindern Cannabinoide Angst, verbessern die Lebensqualität und können in multimodale Behandlungskonzepte gut integriert werden."
Wurden THC-haltige Arzneimittel bis vor wenigen Jahren vor allem bei Tumor- und HIV-Patienten eingesetzt, belegen inzwischen immer mehr Daten wesentlich breitere Anwendungsmöglichkeiten: Erst vor Kurzem zeigte eine italienische Studie, dass Cannabis-Medikamente künftig auch in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen eine Rolle spielen könnten. Schon länger gilt als erweisen, dass THC auch bei Multipler Sklerose, dem Querschnittssysndrom oder anderen spastischen Schmerzen wirkt. Darüber hinaus gibt es vielversprechende Hinweise auf ein Potenzial dieser Arzneimittel in der Behandlung verschiedener chronisch-entzündlicher Erkrankungen, wie Rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen.
"Besonders synergetisch ist die Kombination mit einer Opioid-Therapie", erklärt Prof. Likar. "Anders als Opioide führen Cannabinoide auch bei Überdosierung zu keiner potenziell lebensgefährlichen Atemdepression und auch zu keiner Unterdrückung der wichtigen Abwehrfunktion gegen infektiöse Keime."
Medikamente sollen bezahlt werden
In der durch die Entscheidung der deutschen Bundesregierung neu aufgeflammten Debatte um die Legalisierung von Cannabis wünscht sich der österreichische Experte mehr Sachlichkeit. "Die gegenwärtige Diskussion darf keine ungünstigen Auswirkungen auf den Einsatz von Cannabinoid-Medikamenten in der Schmerz- und Palliativmedizin haben", fordert Prof. Likar. "Angesichts des gut belegten Nutzens sollten diese Substanzen möglichst vielen Patienten, die davon profitieren könnten, zugänglich gemacht werden. Dazu müssen nicht nur gelegentlich noch vorhandene Vorurteile gegenüber Cannabinoid-Medikamenten abgebaut werden, sondern auch bürokratische Hürden". Bisher werden die in Österreich zugelassenen Präparate von den Krankenkassen nur sehr restriktiv und erst nach chefärztlicher Genehmigung erstattet. "Wünschenswert", so Prof. Likar, "wäre eine Vereinfachung der Erstattung durch die Krankenkassen und dass zur Verschreibung kein Suchtgiftrezept mehr erforderlich ist."
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