Psychische Krankheiten betreffen Großteil der Bevölkerung
Eklatante Mängel in Versorgungsstrukturen, innovative Medikamente werden von Kassen nicht bezahlt
Wien/Villach (pts040/25.04.2017/14:30) "Über psychische Krankheiten in Österreich zu sprechen ist schon deshalb schwierig, weil es keine landesweiten Prävalenz-Zahlen gibt", sagt Prim.a Dr.in Christa Rados (Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, ÖGPP; LKH Villach) auf der Pressekonferenz zur Jahrestagung der ÖGGG (27.-29. April in Gmunden). "Derzeit läuft eine Studie, mit der wir endlich über verlässliche Daten zur Epidemiologie verfügen werden."
Die WHO geht davon aus, dass nahezu jeder Dritte im Lauf seines Lebens von zumindest einer psychischen Krankheit betroffen ist. Es kann aus übertragbaren deutschen Studien abgelesen werden, dass psychische Krankheiten einen Großteil der Bevölkerung betreffen. Am häufigsten verbreitet sind Angststörungen. Darunter fallen auch Phobien, von denen nur ein Teil wirkliche Schwierigkeiten im Alltag bereitet.
Betrachtet man Häufigkeit und Leidensdruck gemeinsam, sind es Depressionen, die laut WHO-Berechnungen die größte "Burden of Disease" bescheren. Bis 2030 werden bereits drei psychische Krankheiten unter den Top 5 liegen: Depression auf Platz 1, Alzheimer und andere Formen der Demenz auf Platz 3 und die Alkoholsucht auf Platz 5, führt die ÖGPP-Präsidentin aus.
Gleich hinter der Depression rangieren heute die Suchterkrankungen, unter denen die Alkoholabhängigkeit die verbreitetste ist. Prim. Rados: "Oft hat sie ihren Ursprung in einem unzureichenden Selbstbehandlungsversuch von Depressionen oder Angststörungen. Das eröffnet einen Teufelskreis, indem der Alkoholkonsum die Depressionen weiter verstärkt, was viele mit noch mehr Alkohol zu bekämpfen versuchen."
Eklatante Mängel in den österreichischen Versorgungsstrukturen
Es sei angesichts dieser Entwicklungen erstaunlich, dass die "eklatanten Mängel in den Versorgungsstrukturen" von den Verantwortlichen einfach hingenommen und nur selten thematisiert werden, sagt Prim. Rados: "Wenn bereits ein Viertel der gesamten Krankheitslast in Österreich von psychischen Erkrankungen verursacht wird, aber nur rund sechs Prozent der Gesundheitsausgaben für deren Behandlung aufgewendet werden, ist das aus psychiatrischer Sicht ein Alarmsignal."
Tatsächlich mangelt es inzwischen in der Versorgung an allen Ecken und Enden: Österreich liegt mit 35 bis 55 Betten pro 100.000 Einwohner nicht nur im stationären Bereich weit hinter vergleichbaren Ländern, mit 15 Psychiatern pro 100.000 Einwohnern stehen bei uns auch deutlich weniger Fachärztinnen und Fachärzte zur Verfügung als im OECD-Durchschnitt. Prim. Rados: "Folglich sind drei Monate Wartezeit für ein Erstgespräch keine Ausnahme, für einen kassenfinanzierten Psychotherapieplatz brauchen viele Betroffene noch viel mehr Geduld."
Psychiater, Psychotherapeuten oder Psychologen? Wo Betroffene Hilfe finden
Für die Betroffenen ist es oft gar nicht einfach herauszufinden, wo und bei wem sie adäquate Hilfe finden. "Die Antwort ist: Bei Verdacht auf eine psychische Erkrankung ist die fachliche Expertise einer ausgebildeten Psychiaterin oder eines Psychiaters nötig", so Prim. Rados. "Für Krankheiten sind generell zunächst Ärztinnen und Ärzte zuständig, im Fall seelischer Erkrankungen sind das die Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin." Neben der inzwischen obligaten Integration der Psychotherapie in die psychiatrische Ausbildung bringen auch die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie zusätzliche Anforderungen mit sich. "Dazu kommt, dass unsere Patientinnen und Patienten immer älter werden und wir daher mehr über Komorbiditäten und Medikamenten-Interaktionen Bescheid wissen müssen", sagt Prim. Rados.
Psychotherapeuten ohne fachärztlichen Hintergrund seien hingegen auch für Menschen ohne psychische Erkrankungen zuständig. Ihre Angebote können bei Problemen mit der Familie oder in der Partnerschaft hilfreich sein oder Menschen weiterbringen, die ganz allgemein ihr persönliches Potential erweitern wollen. "Psychotherapie ist vor allem in Form störungsspezifischer Ansätze bei vielen psychiatrischen Erkrankungen wesentlicher Bestandteil einer fachkundigen Behandlung", so Prim. Rados. "In diesem Fall sollte die Therapie dann auch von den Krankenkassen erstattet werden."
Klinische Psychologinnen und Psychologen wiederum können Potentiale und Defizite mit Testverfahren analysieren und helfen den Patientinnen und Patienten ihre Krankheit zu verstehen sowie Gefühle, Erleben und Verhalten einzuordnen und besser zu bewältigen.
Was hilft besser: Medikamente oder Psychotherapie? Neue Arzneien häufig nicht erstattet
Zunehmend wird auch diskutiert, wie Hilfe für psychisch Kranke aussehen soll. "Zugespitzt lautet die Frage oft: Helfen Medikamente oder Psychotherapie besser? Tatsache ist: Die Frage Psychotherapie oder Medikamente stellt sich nur selten. In den allermeisten Fällen gilt 'sowohl als auch'", erklärt Prim. Rados. "Studien zeigen, dass die Kombination mehr bringt, als jeder Ansatz für sich allein."
Tatsächlich sind Wirksamkeit und Effektstärken der Psychopharmaka erwiesenermaßen den in der somatischen Medizin verwendeten Substanzen zumindest ebenbürtig, so Prim Rados: "Umso bedauerlicher ist, dass eine Reihe innovativer Präparate zur Behandlung von Depressionen oder der Alkoholkrankheit, in Österreich zwar zugelassen wurden, von den Kassen aber nicht erstattet werden."
Das Argument, dass es für all diese Anwendungen bereits wirksame Medikamente gäbe, würde so vermutlich bei somatischen Erkrankungen nicht akzeptiert werden, sagt die ÖGPP-Präsidentin: "Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit der Materie beschäftigt hat, müsste wissen, dass es viele Patienten gibt, die auf die vorhandenen Präparate nicht oder nur unzureichend ansprechen oder unter Nebenwirkungen leiden. Viele von ihnen könnten von den neuen Medikamenten profitieren. Hier werden psychisch Kranken bewusst und ausschließlich aus dem Motiv des Einsparens Therapieoptionen vorenthalten."
Chefarzt Psota: Stigma-Turbo - Negatives wird oft psychiatrisch pathologisiert
"Wir beobachten einen wieder gepflegte Automatismus, Gewalttaten, terroristische Aktionen und Verzweiflungstaten als Taten von 'Irren', 'Geisteskranken' oder 'Wahnsinnigen' darzustellen. Mit dieser Form der Etikettierung wird der Begriff 'psychisch krank' zunehmend aus dem medizinischen Kontext herausgelöst und in eine moralische Wertung verschoben", konstatiert Chefarzt Dr. Georg Psota (Past Präsident der ÖGPP). "Auf diese Art und Weise wird ein Klima geschaffen, in dem alles Unangenehme, Bedrohliche, Störende, Gewalttätige, Oberflächliche, Lächerliche, Ärgerliche gleichsam psychiatrisch pathologisiert wird. Es kommt damit in die Kategorie 'krank', kann dort abgelegt und braucht nicht weiter hinterfragt zu werden." Auf dem Symposium "Aggression und Gesellschaft" geht es in Gmunden auch um solche Fragestellungen.
Wenn häufig vor allem dann über Psychosen, Schizophrenie, bipolare Erkrankungen, Depressionen usw. gesprochen wird, wenn gerade die Hintergründe von Terror und anderen Gewaltakten - die in aller Regel politische Hintergründe haben - untersucht werden, "dann ist allein dieser Umstand bereits ein Stigma-Turbo", sagt Chefarzt Psota. "Psychiatrische Diagnosen haben in der Politdebatte nichts verloren. Letztlich wird mit der Neigung, politische Entwicklungen in Richtung weniger Demokratie zu psychiatrisch relevanten Erkrankungen umzuinterpretieren, wieder nichts anderes betrieben als Stigmatisierung."
Trend zur Stigmatisierung erschwert rechtzeitige Behandlung
Letztlich steht zu befürchten, dass durch die permanente Gleichsetzung von allem scheinbar oder wirklich Verwerflichem mit psychischen Krankheitsbildern tatsächlich Betroffene wieder generell als unberechenbar und gefährlich gelten und die Abwehrhaltung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder größer wird. "Es gibt einige aktuelle Daten, die darauf hinweisen", so Chefarzt Psota. "Setzt sich dieser Trend fort, wird das mit Sicherheit wieder dazu führen, dass psychische Leiden wieder vermehrt solange verschwiegen werden, bis der Leidensdruck bereits erheblich, die sozialen Auswirkungen massiv und eine Behandlung um vieles schwieriger wird."
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