Europäischer Orthopädiekongress in Wien
Experten fordern bessere Mediziner-Schulung für Verletzten-Management nach Terrorattacken
Wien (pts020/31.05.2017/10:15) "Sportliche Aktivitäten in der orthopädischen Praxis" ist das Motto des 18. Kongresses der European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT), der vom 31. Mai bis 2. Juni Experten aus aller Welt in Wien zusammenführt. Doch auch ein anderes Thema beschäftigt die rund 6.000 Teilnehmer. "Als orthopädische und unfallchirurgische Spezialisten müssen wir auch in der Lage sein, mit seltenen und unerwarteten Herausforderungen fertig zu werden", sagt EFORT-Präsident Prof. Dr. Jan Verhaar von der Erasmus Universitätsklinik in Rotterdam, Niederlande. "Wir haben eine große Verantwortung, auch unter widrigsten Umständen die beste Versorgung zu gewährleisten. Weil Kollegen überall in Europa und anderen Teilen der Welt im letzten Jahr mit den Folgen steigender Gewalt konfrontiert waren, haben wir uns entschlossen, uns auf diesem Kongress auch mit dem Terror und seinen Folgen für die orthopädische Chirurgie zu beschäftigen."
Die im Kongressprogramm gestellte Frage "Terrorangriffe: Sind wir vorbereitet?" beantwortet der EFORT-Präsident so: "Terror ist immer etwas Unvorhersehbares. Darauf sind wir in Europa nicht gut genug vorbereitet und müssen unser Wissen über viele Implikationen, die solche Gewalttaten auf unsere Arbeit haben, deutlich verbessern." Um einen ersten Schritt zu setzen, wurden Kollegen zu Vorträgen eingeladen, die in jüngster Zeit in Paris, Brüssel, Berlin oder Israel unmittelbar mit den Folgen terroristischer Anschläge konfrontiert waren. Indem sie sie von ihren Erfahrungen berichten, helfen sie uns dabei, uns auf die unerwarteten, ungewollten, aber nichtsdestotrotz realen Möglichkeit eines Terroranschlages vorzubereiten."
Paris 2015: Erfolgreiche "zivile Kriegsmedizin"
Ein besonders folgenschwerer Anschlag ereignete sich am 13. November 2015 in Paris. "Wir haben schnell erkannt, dass wir es mit dem schlimmsten Angriff seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben", berichtet der Orthopädische Chirurg am Hôpital d'instruction des armées Bégin, Dr. Olivier Barbier. Für 120 Opfer kam jede Hilfe zu spät, 302 erlitten zum Teil schwerste Verletzungen, 45 davon hatte allein das Bégin-Krankenhaus zu versorgen. 22 von ihnen mussten notoperiert werden, um Gewebeschäden, Schussverletzungen und Bauchwunden zu versorgen.
"Das war die zivile Anwendung von Kriegsmedizin", so Dr. Barbier. "Verletzte, die in solchen Fällen in Militärkrankenhäuser eingeliefert werden, profitieren von der professionelle Einsatzerfahrung der Mitarbeiter mit einem Triage-Management und den Grundsätzen der Schadenskontrolle." Wie in Kriegsgebieten oft praktiziert, wurden die eingelieferten Opfer nach Schwere ihrer Verletzungen eingeteilt: Acht kamen in die dringlichste Behandlungsstufe T1, zehn in die Sichtungskategorie T2 und 27 wurden als weniger dringlich mit T3 kategorisiert. So konnten die Chirurgen die insgesamt 50 Operationen in wohlgeordneter und gezielter Reihenfolge durchführen.
"Die Schlüsselkriterien in den ersten Stunden nach einem Anschlag sind, die Vitalfunktionen der Patienten zu managen, zusätzliches medizinisches Personal einzuberufen und den Zugang zu allen OP-Räumen zu sichern", fasst Dr. Barbier die Erfahrungen zusammen. Am Ende konnten die Pariser Ärzte eine - inzwischen auch in wissenschaftlichen Journalen publizierte - beachtenswerte Bilanz vorweisen: 24 Stunden nach Beginn der Anschläge waren alle 302 Verletzten aus den Notfallaufnahmen und Trauma-Units entlassen und alle Notfalloperationen abgeschlossen. Nur vier der verletzten Patienten verstarben.
Vorbereitung für den Ernstfall
"So etwas kann heute überall, auch in kleineren Städten passieren", sagt Prof. Verhaar. "Wir müssen daher dafür sorgen, dass alle darauf vorbereit sind, schlagartig mit einer so großen Anzahl von Verletzten umzugehen." Dazu würden die teilweise vorhandenen Notfall- und Katastrophenpläne nicht immer ausreichen. "Ein Terrorattentat unterscheidet sich immanent von einem Massenunfall. Während zum Beispiel eine Massenkarambolage auf der Autobahn klar definiert und endlich ist, ist nie klar, wann ein terroristisches Attentat wirklich zu Ende ist und wie viele Patienten wirklich versorgt werden müssen."
Schulungsbedarf: Zivile Ärzte müssen Kriegsverletzungen behandeln
Nachholbedarf ortet Tagungspräsident Prof. Verhaar in der medizinischen Schulung: "Bei den Unfällen, die Orthopäden und Unfallchirurgen in der Regel behandeln, erleiden die Opfer meist eine Reihe von Knochenbrüchen und das Überleben hängt davon ab, wie und in welcher Reihenfolge diese behandelt werden. Terroristen benutzen aber oft Kriegswaffen, die Verletzungen verursachen, mit denen wir im zivilen Bereich kaum Erfahrungen haben und die vor allem sehr starke Blutungen verursachen. Deshalb müssen auch zivile Ärzte in der Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen geschult werden."
"Die Erstbehandlung sollte in solchen Fällen aus einer Stabilisierung und lebensrettenden Maßnahmen, der Kontrolle von Blutungen und in vielen Fällen einer Fixierung der Patienten bestehen", berichtet der israelische Arzt Prof. Dr. Alexander Lerner beim EFORT-Kongress von seinen Erfahrungen mit mehr als 800 zum Teil schwer verletzten Flüchtlingen an der Grenze zu Syrien. "Die Erstbehandlung muss eine generelle Stabilisierung, eine Erhaltung der Vitalfunktionen, die Kontrolle des Blutverlusts und häufig eine effektive und minimal-invasive Stabilisierung von Frakturen umfassen. Das häufigste Problem sind Wundinfektionen. Die Erfahrung zeigt, dass eine radikale Sanierung des Wundbettes mit einer Fixierung, sowie ein stufenweiser Behandlungsplan auf Basis von Schadensbegrenzung, entscheidend für den Behandlungserfolg und die Erhaltung der Funktionalität von Gliedmaßen sind."
Psychologische Unterstützung für Opfer und Helfer
Auch andere wichtige Einsichten hat Prof. Lerner bei seinen Einsätzen an der syrischen Grenze gewonnen: "Die psychologische Unterstützung von Patienten, Ärzten und Helfern ist essenziell. Ohne diese kann niemand den Druck, der bei der Behandlung von so vielen hilflosen und ernsthaft verwundeten Menschen, insbesondere von Kindern, entsteht, aushalten."
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