pts20030528047 Politik/Recht

Einstellung der Spritzenverabe in niedersächsischen Gefängnissen ist inhuman

Deutsche AIDS-Hilfe e.V. und Niedersächsische AIDS-Hilfe e.V. protestieren


Berlin (pts047/28.05.2003/17:13) Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH) und die Niedersächsische AIDS-Hilfe e.V. (NAH) fordern die neue niedersächsische Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) auf, die Spritzentauschprogramme in den Haftanstalten Lingen (Abteilung Groß-Hesepe) und Vechta (Frauen) fortzuführen und nicht, wie heute angekündigt, am kommenden Sonntag einzustellen.

"Die beiden seit 1996 bestehenden Modellprojekte haben nicht nur bundesweit große Beachtung und Anerkennung gefunden, sondern sie gelten auch anderen Ländern als Vorbild für eine erfolgreiche HIV- und Hepatitis-Prävention in Haft", erklärt dazu DAH-Geschäftsführerin Hannelore Knittel. "Stellt man diese Programme ein, ist dies nicht nur ein inhumaner Akt gegenüber den Gefangenen, denen man wichtige Schutzmöglichkeiten entzieht, sondern widerspricht auch dem Strafvollzugsgesetz, das in § 3 Absatz 1 fordert: Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden." Außerhalb der Gefängnisse aber gehöre die Vergabe steriler Spritzen zur Vermeidung von Infektionen mit HIV und Hepatitis längst zu den etablierten und nachgewiesenermaßen effektiven Maßnahmen der Drogen- und AIDS-Hilfe.

"Deshalb hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Caspers-Merk, im November 2001 an die Justizminister der Länder appelliert, Maßnahmen zur Prävention von HIV- und Hepatitisinfektionen, die sich außerhalb des Strafvollzugs längst als effektiv erwiesen haben, auch endlich in Haftanstalten zu akzeptieren", erklärt NAH-Vorstandsmitglied Brigitte Litfin. "Gefangene müssen zumindest die Möglichkeit haben, sich zu schützen - wie alle anderen auch -, und zwar unabhängig davon, ob sie sich dann auch tatsächlich schützen. Schließlich würde auch niemand auf die Idee kommen, den Verkauf von Kondomen zu verbieten, weil sich manche nicht schützen."

Hintergrundinformationen:
- Laut Angaben von Justizministerin Heister-Neumann werden durch Spritzentauschprogramme nicht mehr HIV- und Hepatitisinfektionen vermieden als ohne dieses Angebot. In der Pressemitteilung des Ministeriums werden allerdings Ergebnisse der Begleitforschung zitiert, die sich weder im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung finden noch in den medizinischen Untersuchungen, die während der Projektlaufzeit durchgeführt wurden. Fakt ist: Bei keinem der Inhaftierten, die während der Projektlaufzeit am Spritzentauschprogramm teilnahmen, kam es zu einer (weiteren) HIV- oder Hepatitisinfektion. Dagegen belegen zahlreiche außerhalb des Strafvollzugs durchgeführte Studien eine enge Verbindung zwischen der Verbreitung von HIV und Hepatitiden unter Drogengebraucher(inne)n und ihren Hauftaufenthalten.

- Es ist davon auszugehen, dass bis zu einem Drittel aller Inhaftierten in Deutschland Drogen intravenös konsumieren - die Erfahrung zeigt, dass der Drogenkonsum in Haft auch bei scharfer Kontrolle nicht unterbunden werden kann. 3-26 % der Inhaftierten beginnen sogar in Haft mit dem intravenösen Drogenkonsum, wie Zahlen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) belegen, und bis zu 21 % der injizierenden Drogenkonsument(inn)en haben während ihrer Haftstrafe mit dem Injizieren von Drogen begonnen. Umso wichtiger ist es auch nach Auffassung der EBDD, dass Inhaftierte Zugang zu Maßnahmen der Risikominimierung haben.

- Der Gebrauch benutzter Spritzen ist der Hauptübertragungsweg für HIV und Hepatitis unter Drogengebraucher(inne)n. Nach § 36 Infektionsschutzgesetz sind Justizvollzugsanstalten verpflichtet, in Hygieneplänen innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Erhaltung der Infektionshygiene festzulegen, um Infektionsrisiken zu minimieren - die Vergabe steriler Spritzen sind eine solche Maßnahme. Selbst wenn solche Angebote nicht in Anspruch genommen würden, wie es die Justizministerin behauptet, so wäre dies immer noch eine persönliche Entscheidung, die zu respektieren ist. Auch außerhalb des Vollzuges treffen schließlich nicht alle Menschen Vorsichtsmaßnahmen (z. B. Safer Sex).

- Nach der 1993 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichten Richtlinie "HIV-Infektion und AIDS in Gefängnissen" sollen Präventionsmaßnahmen, die außerhalb des Justizvollzugs angeboten werden, auch innerhalb des Strafvollzugs ermöglicht werden. Dieser Empfehlung sind mittlerweile viele EU-Länder gefolgt; so stehen z. B. in Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Finnland und Großbritannien in allen Justizvollzugsanstalten Desinfektionsmittel zur Verfügung, um wenigstens auf dem Weg der Spritzendesinfizierung das Übertragungsrisiko zu senken. Darüber hinaus wurde in allen spanischen Haftanstalten die Spritzenvergabe eingeführt.

- Geht man davon aus, dass in Deutschland etwa 1 % aller Gefangenen HIV-positiv sind (konservative Schätzung), wäre die HIV-Verbreitung in dieser Gruppe 25-mal höher, als sie für die übrige Bevölkerung angenommen wird. Zwischen 36 und 90 % aller Drogen gebrauchenden Gefangenen sind Hepatitis-B- und/oder Hepatitis-C-infiziert.

Nachfragen und weitere Informationen:

Bärbel Knorr, Bereich Drogen und Haft der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.,
Tel.: 030/69 00 87-45

Imke Schmieta, Geschäftsführerin der Niedersächsischen AIDS-Hilfe e.V. Landesverband (NAH),
Tel.: 0511/3 06 87 87

(Ende)
Aussender: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
Ansprechpartner: Bärbel Knorr
Tel.: 030-690087-45
E-Mail: baerbel.knorr@dah.aidshilfe.de
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