Personalisierte Medizin: Test am virtuellen Zwilling
Rolle von Arzt und Patient wandelt sich in Zukunft grundlegend
DNA-Sequenzierungsmaschine: Ersatz für Arztgespräch? (Foto: Flickr/Jurvetson) |
Maastricht/Bad Hofgastein (pte004/07.10.2011/06:00) Die Versprechungen der personalisierten Medizin klingen wie Science Fiction: Jeder bekommt einen virtuellen Zwilling auf dem iPod, an dem er die Reaktion des Körpers auf Umwelt, Lebensstil und Medikamente simulieren kann. Krankhafte Veränderungen sieht man schon vor den Symptomen und Therapie-Optionen werden auf den Einzelnen zugeschnitten. Wie die personalisierte Gesundheitsversorgung der Zukunft aussehen könnte, zeigt Angela Brand, Leiterin des European Centre for Public Health Genomics http://phgen.eu anlässlich des European Health Forum Gastein http://ehfg.org , im pressetext-Interview.
Therapie bereits vor Symptomen
Die Medizin ist an ihre Grenzen gelangt, betont Brand. "Obwohl die Ausgaben seit Jahrzehnten explodieren, blieben große Fortschritte in der Therapie der häufigsten Krankheiten aus. Das geht darauf zurück, dass immer nur ein bestimmter Teil von Patienten auf ein Medikament anspricht, da jeder Mensch und jede Krankheit zellulär, molekular und genetisch einzigartig sind. Viel Geld und Heilungschancen gehen somit in gescheiterten Therapien verloren." Um Verbesserungen zu erzielen, muss man kranke Entwicklungen weit früher erkennen und ihnen gegensteuern, bevor sich Symptome zeigen.
Fortschritte der Zell- und Genforschung geben Hoffnung, dass diese Diagnose auf molekularer oder zellulärer Ebene tatsächlich funktioniert. Antrieb soll das eine Mrd. Euro schwere EU-Flagschiff-Pilotprojekt "IT Future for Medicine" liefern, mit dem Cloud Computing, Zell- und Molekularbiologie, Genom-Entschlüsselung und Datenanalyse vorantreiben werden. Kommt das auf zehn Jahre ausgelegte Projekt seinen Ankündigungen nach, könnte eine auf dieser Basis ausgerichtete personalisierte Medizin 100 Mrd. Euro Gesundheitsausgaben pro Jahr einsparen, sagen dessen Befürworter.
Jede Krankheit seltene Krankheit
Gendaten alleine reichen für personalisierte Medizin allerdings nicht. "Ob und wie sich eine Vorprogrammierung ausdrückt, wird in hohem Maß von der Umwelt bestimmt, weshalb das Computermodell durch andere Informationen laufend ergänzt werden muss", erklärt Brand. Die Maastrichter Forscherin zählt dazu etwa ökonomische und soziale Angaben des Patienten, Messdaten der Umgebungsluft, Kohlenhydrat-Auswertung von Fotos der eingenommenen Mahlzeiten bis hin zu Hormon- oder sogar Stuhlmessungen. Das System sei lernfähig und verbessere dadurch seine Interpretation der Daten ständig.
Personalisierte Medizin wird nicht nur die Pharmaforschung verändern, deren Medikamententests auf Populationsebene plötzlich überflüssig werden. Der Ansatz liefert auch einen neuen Blick auf Krankheit, betont Brand. "Durch der Zuschnitt auf den Einzelnen wird jeder ein medizinisches Unikat und jede Erkrankung zur seltenen Krankheit." Parallelen zum Systemdenken wie etwa in der homöopathischen Anamnese oder in der Traditionellen Chinesischen Medizin sieht die Expertin als "durchaus angebracht". Gegenseitiges Lernen sei sinnvoll, wobei jedoch Evidenz leichter zu erbringen sei.
Alle Macht beim Patienten
Die einschneidendste Änderung steht jedoch der Rolle von Arzt und Patient bevor. "Der einzelne Bürger wird aufgewertet. Er hat nun selbst den weißen Kittel an und entscheidet, wem er seine Daten weitergeben will." Der Arzt schlägt auf Basis der Datenauswertung bestenfalls vor, welche Medikamente, Lebensstil-Änderungen oder Reha-Maßnahmen sinnvoll wären, beschränkt sich aber sonst auf "technische Reparaturen" wie etwa in der Chirurgie. Verständnisprobleme seitens der Patienten könnten durch vereinfachte Gestaltung verbessert werden, ethische Bedenken bleiben vorerst unerwähnt und an Akzeptanzprobleme glaubt Brand nicht. "Ältere Menschen vertrauen eher dem Hausarzt. Jüngere wachsen jedoch ohnehin längst mit IT auf."
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