pts20200911027 Umwelt/Energie, Produkte/Innovationen

Ein Tee und viele Fragen - und was Monsieur Poirot damit zu tun hat

Moskauer Politikexperte Dmitry Egorchenkov kommentiert den Fall Nawalny


Berlin (pts027/11.09.2020/15:00) Seine Sicht auf den Fall des Oppositionellen Alexej Nawalny beschreibt Dmitry Egorchenkov, einer der Top-Politikexperten im russischen Fernsehen, in einem Kommentar. Egorchenkov ist Direktor des Institute for Strategic Studies and Forecasts (Moskau) sowie ständiges Mitglied des konservativen Izborsk Clubs, Mitglied des Exekutivrates der Russischen Ökologischen Gesellschaft, Diplomat, Politologe, Dozent, Autor und Blogger.

Seit dem 20. August steht der bekannte russische oppositionelle Blogger Alexej Nawalny wieder im Brennpunkt des Medieninteresses. Bundeskanzlerin Merkel hat erklärt, dass laut der Militärangaben Spuren von Vergiftungskampfstoff "Nowitschok" in seinen Proben gefunden worden und dass dies alles ein Verbrechen gegen grundlegende westliche Werte sei. Dabei haben ihr zeitgleich Washington und NATO-Hauptquartier zugestimmt. Am 22. August wurde Nawalny in die Berliner Klinik Charité zur Behandlung transportiert. Er ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen, sein Leben ist momentan nicht gefährdet. Jetzt erinnert sich kaum jemand, dass es in vielem das Verdienst der russischen Ärzte aus der sibirischen Stadt Omsk ist, die den Zustand des Patienten in ersten Stunden zu stabilisieren geschafft hatten, um Nawalny dann nach Deutschland zu transportieren.

Vergiftung? Wenn man die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema in amerikanischer, sogar europäischer Presse und besonders in russischen Oppositionsmedien aufmerksam analysiert, scheint die Tatsache des Giftangriffs schon bewiesen. Die Schuldbeweise gegen den Kreml und Putin persönlich wurden bereits vorgelegt. Der wesentliche davon ist: "Wer könnte das machen, wenn nicht Putin?"

Die Reaktion der Nawalny-Follower in den sozialen Netzwerken ist auch sehr interessant. Sie stellen eine Vielzahl von Fragen zur Qualität des russischen Gesundheitssystems, zur Professionalität der Ärzte in Omsk und natürlich zur Offenheit und Ehrlichkeit der russischen Macht, die schon vor der ersten ärztlichen Untersuchung Nawalnys des Verbrechens beschuldigt wurde. Jetzt haben wir erfahren, dass die Russen in ihrem eigenen Land gegen ihren eigenen Bürger Vergiftungskampfstoff verwendet hatten, von dessen Spuren Kanzlerin Merkel sprach.

Doch je schwerer die erhobenen Anklagen lauten, desto mehr offene Fragen bleiben, die jemand zu beantworten versuchen müsste. In diesem Fall ist unsere professionelle Pflicht, diese Fragen in der europäischen Öffentlichkeit hörbar zu machen. Man muss an diese Geschichte nicht emotional, sondern rational herangehen, ohne die Rollen von Putins Anwälten sowie auch seinem Ankläger einzunehmen. Wie eine berühmter Romanfigur der britischen Schriftstellerin Agatha Christie, der belgische Privatdetektiv Hercule Poirot, werden wir keine Standardfragen stellen, die normalerweise die Polizei (und in unserem Fall die Öffentlichkeit im Internet) stellt, sondern ganz andere.

Also was ist uns bekannt? Alle Seiten beharren darauf, dass solch ein brisanter Vorfall mit Herrn Nawalny umfassend und so transparent wie möglich untersucht werden sollte. So spricht Merkel, so spricht Macron. Aber so spricht auch Putin in seinem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Italiens Giuseppe Conte. Um dies zu bestätigen, stellen die Ärzte aus Omsk ihren deutschen Kollegen sofort alle Ergebnisse ihrer Untersuchungen zur Verfügung. Sie erklären sich sogar bereit, untersuchte Biomaterialien vorzuweisen, aber bekommen die Absage von europäischen Experten. Warum?

Als Alexej ins Koma gefallen war, zog man eine Parallele zum "Fall von Sergej und Julia Skripal", die der Kreml mit Hilfe des Militärnachrichtendienstes GRU und des Stoffs Nowitschok angeblich zu vergiften versucht habe. Apropos, wo ist jetzt diese Geschichte, die so viel Aufsehen erregt hatte? Die Vorahnung hat uns nicht getäuscht. Aber im Fall Nawalny gab es keinen einzigen Hinweis auf "Geheimdienstagenten". Das war sein persönlicher Assistent, der ihm vor dem Abflug ein Glas Tee gebracht hat, der vergiftet gewesen sein soll. Hat jemand mit diesem Assistenten gesprochen? Wird die Aufzeichnung dieses Gesprächs untersucht, wenn die Vergiftungsversion sich zu bestätigen anfängt? Und das Wichtigste ist: warum verwendet man einen Kampfstoff, um einen unbequemen Politiker in der Tiefe des Landes, in Sibirien, zu töten und transportiert dann das Opfer für unabhängige Untersuchung nach Berlin? Was ist der Sinn dieser Geheimoperation des tückischen KGB?

Wir wissen, dass die Verwandten und die Mitarbeiter von Herrn Nawalny seinen Transport nach Deutschland fast sofort beantragt hatten und dass deutsche Spezialisten trotz bestehender pandemischer Einschränkungen in Russland zugelassen wurden. Sobald der Zustand Nawalnys stabilisiert war, erklärte sich die russische Seite unverzüglich bereit, den Abflug des Flugzeugs und den Transport zu beschleunigen. Aber die deutschen Piloten und Mediziner, die Müdigkeit und Bedürfnis nach Schlaf vorschützten, haben Nawalny erst nach zwölf Stunden mitgenommen!

Warum beachtet man diese Langsamkeit der deutschen Spezialisten nicht, sondern löst eine Flut von Kritik gegen die russischen Ärzte aus, die in kürzester Zeit und unter schwierigen Bedingungen Nawalny zum Flug vorbereitet hatten? Darüber hinaus hat Nawalny kein Recht, das Land zu verlassen - nicht nur wegen der COVID-19-Situation, sondern auch wegen der jeweiligen Verpflichtung vor dem Gericht. Trotzdem flog er nach Berlin mit dem Privatflugzeug, den der russische Multimillionär Boris Simin für ihn bezahlt hatte. Glauben Sie wirklich, dass all diese Genehmigungen und die bequemsten Bedingungen ohne Putins Zustimmung geschaffen wurden? Nochmal die Frage: Das Regime will Nawalny loswerden und transportiert ihn zur Behandlung, oder? Wenn das ein Versuch war, die politische Opposition einzuschüchtern, dann ist es etwas zu "vegan" für den Kreml.

Nun also sind nicht mehr politische, sondern rein medizinische Fragen an der Reihe. In der Erklärung der Charité-Klinik handelt es sich um Behandlung von Nawalny mit Atropin. Es stellte sich heraus, dass die Hausärzte ebenso wie ihre Berliner Kollegen eine Atropin-Kur durchgeführt hatten. Was für eine Nachricht! Wie unterscheidet sich dann die Behandlung in Berlin von der Behandlung in Omsk?

Laut der Charité deuten irgendwelche "klinische Daten" auf Alexej Nawalnys Intoxikation hin. Dann sind noch keine Spuren von bestimmten Schadstoffen oder Giften herausgefunden, oder? Es geht nicht um das Toxin, sondern um den Toxineffekt. Darf man in solchem Falle über die konkrete Tatsache der Vergiftung sprechen?

Wir erinnern uns daran, welche Maßnahmen zum Einwohnerschutz in Salisbury vorgenommen wurden, aber das war weder in Russland noch in Deutschland der Fall. Sollte man einen Kampfstoff im Flugzeug oder im Flughafen verwendet haben, müsste es weitere Geschädigte geben, Mediziner, Begleiter und Angehörige von Nawalny, die ihn dauernd kontaktiert haben. Wir hätten gerne gewusst, um welche chemische Spuren es geht? Nebenbei gesagt, auch das russische Außenministerium hatte um diese Erklärungen gefragt.

Schließlich ist die Diagnose der russischen Ärzte dementiert, dass der Zustand von Herrn Nawalny Folge einer Stoffwechselstörung war? Warum wurden keine Gegenargumente dieser Version vorgebracht? Warum wird sie nicht einmal erörtert oder diskutiert? Alexej Nawalny hat sich in letzter Zeit äußerlich wirklich sehr verändert. Um sich zu vergewissern, reicht es, ein Foto von ihm anzusehen, das zwei oder drei Jahre alt ist. Das Internet erinnert sich an alles. Die Anwendung militärischer Chemie sieht etwas anders aus.

Und wie sollte man diese Situation in Bezug auf Informationsoffenheit betrachten? In der fernen sibirischen Stadt berichteten Ärzte fast stündlich über den Zustand des Patienten und seine Behandlung. Sie erläuterten Versionen, gaben Kommentare. Was sehen wir in Berlin? Nichts. Informationsvakuum. Sogar die von den Ärzten angekündigte Pressekonferenz wurde abgesagt. Die Mitteilung wurde eilig und fest auf der höchsten politischen Ebene gemacht. Im 21. Jahrhundert ersetzt eine solche Mitteilung die Untersuchung und die Entscheidung des Gerichts. Trägt dies zur objektiven Ursachenfeststellung des Vorfalls bei?

Wenn Putin erwähnt war, ist es ratsam, diese Situation in Bezug auf die russische Innenpolitik, Geopolitik und den elementaren Informationshintergrund um den russischen Präsidenten zu betrachten. Vor zwei Monaten hatten die Russen mit überwiegender Mehrheit für die von Putin vorgeschlagene neue Verfassung gestimmt. Die russischen Wissenschaftler haben auf Putins Anweisung das erste Vakzin gegen COVID-19 in der ganzen Welt entwickelt. Ein großer Sieg trotz Aberkennung weltweit.

Jetzt könnten die Beziehungen zwischen Russland und Europa viel stärker werden, besonders angesichts der sich abkühlenden Beziehungen zwischen der EU und den USA. Sehen Sie mal an, wie Angela Merkel stets das Projekt Nordstream2 verteidigt. Na und? Könnte Putin seinen Gegnern solch eine Trumpfkarte für neue Sanktionen geben? "Nochmalige" Verwendung gerade jenes Stoffs, den alle von ihm erwartet haben. Bravo die Russen! Es ist schön, mit euch zu tun haben. Hat gerade jener Putin das gemacht, der beim KGB diente und weiß, was geheime Operationen sind und wie man den Tod von Herrn Nawalny nutzen kann, um den Informationsdruck auf Moskau zu erhöhen?

All dies sind die Schlüsselfragen, die kaum jemand bald beantwortet. Und wenn man sie mit den Augen des Detektivs betrachtet, wird es klar, dass Putin die letzte Person ist, die von der Vergiftung des Herrn Nawalny und von dem internationalen Skandal um diesen Vorfall profitieren würde. Um das zu verstehen, muss man nicht Hercule Poirot sein.

(Ende)
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