pte20240701019 Forschung/Entwicklung, Medizin/Wellness

Sucht keine chronische Erkrankung des Hirns

Reinout W. Wiers von der University of Amsterdam plädiert für grundlegenden Paradigmenwechsel


Alkoholabhängiger: Ausstieg ist jederzeit möglich (Foto: pixabay.com, rebcenter-moskow)
Alkoholabhängiger: Ausstieg ist jederzeit möglich (Foto: pixabay.com, rebcenter-moskow)

Amsterdam (pte019/01.07.2024/10:30)

Die Sucht ist nicht einfach eine chronische Erkrankung des Gehirns. Wird sie jedoch so gesehen, kann das die Behandlungsmöglichkeiten einschränken und Stigmata vergrößern. Zu diesem Ergebnis kommt Reinout W. Wiers von der University of Amsterdam in seinem neuen Buch "A New Approach to Addiction an Choice". Sucht kann in manchen Extremfällen laut dem Experten zwar als ein chronisches Hirnleiden angesehen werden. Meistens sollte sie jedoch als eine verzerrte Entscheidung des Betroffenen gelten.

Dauerhafte Veränderung schwierig

Laut Wiers verringert die Klassifizierung der Sucht als chronische Hirnkrankheit zudem das Vertrauen in die Möglichkeit einer dauerhaften Veränderung. Davon seien dann die suchtkranke Person, aber auch der Therapierende betroffen. Die Wahrnehmung der Sucht habe sich im Laufe der Jahre sowohl in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch bei der Bevölkerung verändert. Bis zum 18. Jahrhundert wurde Sucht als moralisches Problem angesehen, dass nur durch die Bestrafung der betroffenen Person "behandelt" werden könne.

Nach umfassender Überprüfung der wissenschaftlichen Literatur argumentiert Wiers, dass es zwar eindeutige Beweise dafür gibt, dass sich das Gehirn als Reaktion auf Drogenmissbrauch verändert und dass diese Veränderungen eine Genesung tatsächlich schwieriger machen. Jedoch reichten diese Belege nicht dafür aus, Sucht als chronische Erkrankung des Gehirns zu klassifizieren. Die Ergebnisse der Neurowissenschaften weisen auf Beeinträchtigungen bei mehreren Gehirnnetzwerken hin.

Weitere Netzwerke, die bei der Sucht eine Rolle spielen, umfassen auch das gewohnheitsbildende Netzwerk, das Salienz-Netzwerk, das festlegt, was eine Person als wichtig erachtet und das Netzwerk für exekutive Kontrollfunktionen, das sich auf die Unterbindung und das Arbeitsgedächtnis auswirkt. Wiers betont, dass es keinen Zweifel gibt, dass sich exzessiver Alkoholkonsum auf nahezu alle Regionen des Gehirns negativ auswirkt. Das Gleiche gilt, so der Experte, auch für andere Drogen.

Sucht lässt sich überwinden

Wiers argumentiert, dass viele Menschen, die irgendwann mit einer Sucht kämpfen, dieses Problem überwinden können. Diese Patienten könnten tatsächlich wieder vollständig hergestellt werden - und zwar ohne professionelle Hilfe. Und genau hier liegt der Unterschied zu progressiven Erkrankungen des Gehirns wie einer Demenz oder Parkinson. Die Schätzungen sind je nach Substanz unterschiedlich, aber bei verbreiteten Suchterkrankungen wie Alkohol-, Tabak- und Cannabiskonsum werden weniger als zehn Prozent der Betroffenen behandelt.

Ein weiteres Problem stellt die Stigmatisierung der Betroffenen dar. Sie werden laut Wiers in Studien oft als Menschen beschrieben, die nur teilweise für ihre Probleme verantwortlich gemacht werden können. Das führe aber auch dazu, dass sie als eine grundlegend andere Art von Menschen angesehen werden, die gefährlich ist und von der man sich am besten fernhält.

Laut der alternativen Sicht von Sucht als einer verzerrten Entscheidung, treffen Menschen Entscheidungen, die auf Vorhersagen der Folgen von Handlungen basieren. Dieser Vorgang könne jedoch mittels einer Therapie und einer ganzen Reihe von kognitiven Ansätzen behandelt werden. Wiers kommt zu dem Schluss, dass es empirisch starke Beweise dafür gibt, dass Menschen ihr Verhalten willentlich verändern können.

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