pts20050217013 Politik/Recht, Medien/Kommunikation

Gewerbeverein: EU hat bei ihrer Verfassung eine massive Distanz zum Bürger!

Verfassungspatriotismus über eine lasche Veröffentlichung im EU-Amtsblatt?


Wien (pts013/17.02.2005/08:50) Nicht die Diskussion um geographische oder christlich-abendländische Grenzziehungen könnte das Projekt der europäischen Verfassung ernsthaft irritieren. Es sind vielmehr Übersetzungsprobleme und die Desinformation der abstimmenden Bevölkerung, die nun den reibungslosen Ablauf der Ratifizierung gefährden - stellt man im Österreichischen Gewerbeverein (ÖGV) fest.

Mit immer neuen Terminvorgaben wird den Parlamenten in allen Mitgliedstaaten umstandslose Zustimmung abgefordert oder auf baldige Referenden gedrungen.

Diese Eile treibt groteske Blüten: Nur knapp zwei Wochen nach der Unterzeichnung des überarbeiteten "Vertrages über eine Verfassung für Europa" meldete am 11. November das Parlament Litauens den Vollzug nach Brüssel - der Text aber erschien (ebenso wie sämtliche Übersetzungen in die verschiedenen europäischen Sprachen) erst vier Wochen später im Amtsblatt der EU. Worüber das Parlament Litauens genau abgestimmt hat, steht in den Sternen. Vorauseilender Gehorsam eines EU-Neulings!

In den Übersetzungen des EU-Verfassungsentwurfs stecken - so meinen jedenfalls Experten - zudem so gravierende Fehler, dass der Justizausschuss des estnischen Parlaments erklärte, es sei unmöglich über einen Vertrag abzustimmen, der "nicht authentisch oder sogar unvollständig" vorliegt. Was in Litauen niemanden beunruhigte, verzögert nun in Polen, Estland und Lettland die Abstimmungen um (mindestens) mehrere Monate.

Damit droht gleich in mehreren Ländern ein Debakel. So kann in Polen das Referendum nicht mehr wie geplant zeitgleich mit der Präsidentenwahl stattfinden, was die benötigte Beteiligung von mindestens 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten unwahrscheinlich macht.

Damit und durch andere Irritationen scheint sich der ständig weiter beschleunigte Ratifizierungsprozess plötzlich zu verlangsamen. Es zeugt vom Charakter des gesamten Verfahrens, dass diese Verlangsamung keineswegs auf
politischen Überlegungen beruht. Erst technischen Problemen ist zuzuschreiben, was den nationalen Öffentlichkeiten unmöglich war: die Logik des Sachzwangs für einen Moment außer Kraft zu setzen.

Selten hat ein derart hoch gejubeltes politisches Projekt so wenig greifbare Verbreitung gefunden. An diesem Missverhältnis könnte die Verfassung nun scheitern. Während der Französischen Revolution hängte man die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die neue Verfassung noch an allen öffentlichen Plätzen aus, weil jeder sie kennen und an ihrem Maßstab die Tätigkeit der Regierung kontrollieren sollte. Um die US-amerikanische Unionsverfassung wurde auf der Grundlage des veröffentlichten Verfassungsdokuments in zahllosen Zeitungsartikeln eine Ratifizierungsdebatte zwischen Kritikern und Befürwortern geführt, die sich mit jedem einzelnen Verfassungsartikel beschäftigte und etwa ein Jahr andauerte. Heute hingegen soll offensichtlich die Veröffentlichung im Amtsblatt der EU genügen. Für einen europäischen Verfassungspatriotismus sind dies denkbar schlechte Bedingungen.

Für Demokratie bedarf es demokratischer Verfahren. Diese aber benötigen Zeit - Zeit, die man der vorgeblich höchsten Gewalt im Staat, dem Souverän, bisher nicht gegönnt hat. Getreu der Devise: Einen schlafenden Souverän weckt man besser nicht - jedenfalls nicht, bevor er einer europäischen Verfassung unterworfen ist, die er nie diskutiert, gewollt und beschlossen hat. Oder erwacht dieser Souverän noch, ehe es zu spät ist?

(Ende)
Aussender: Österreichischer Gewerbeverein
Ansprechpartner: Herwig Kainz
Tel.: +43/1/587 36 33
E-Mail: h.kainz@gewerbeverein.at
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